B. Spörri u.a.: Die Schweizer KZ-Häftlinge

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Titel
Die Schweizer KZ-Häftlinge. Vergessene Opfer des Dritten Reichs


Autor(en)
Spörri, Balz; Staubli, René; Tuchschmid, Benno
Erschienen
Zürich 2019: NZZ Libro
Anzahl Seiten
320 S.
von
Gregor Spuhler

Anlass für die Entstehung des vorliegenden Buchs war ein Besuch des Journalisten René Staubli im Konzentrationslager Buchenwald. Dort sind auf einer Gedenktafel auch Schweizer KZ-Häftlinge erwähnt – was Staubli erstaunte und neugierig machte. Für das historische Wissen in der Schweiz ist dies symptomatisch: Während zur Flüchtlingspolitik zahllose Publikationen vorliegen, fanden Schweizer Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung in der Forschung lange Zeit wenig und in der Öffentlichkeit überhaupt erst in jüngster Zeit Aufmerksamkeit. 2015 begann das Autorenteam mit seiner Recherche. Ausgehend von den Entschädigungsakten für Schweizer Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung im Bundesarchiv konsultierten sie zahlreiche Archive und Gedenkstätten; zudem konnten sie sich auf umfangreiche, teilweise auch im Internet zugängliche Opferlisten sowie das Archiv des pensionierten Walliser Briefträgers Laurent Favre stützen. Letzterer hat seit 1972 auf privater Basis kontinuierlich Informationen über Schweizer KZ-Häftlinge gesammelt und seine eindrückliche Dokumentation den Autoren zur Verfügung gestellt.

Das Buch besteht aus drei Teilen: Es beginnt mit einer «Historischen Einordnung» von rund hundert Seiten. Im ebenso langen zweiten Teil werden zehn Schicksale vorgestellt und mit Abbildungen (Fotografien, Zeichnungen, Schriftstücke, Grafiken, Karten) dokumentiert. Der dritte Teil unter dem Titel «Memorial» hebt sich gestalterisch ab. Hier werten die Autoren die Informationen, die sie zu jenen 391 Schweizerinnen und Schweizern gefunden haben, die nachweislich in Konzentrationslagern inhaftiert waren, statistisch aus und bereiten sie tabellarisch auf. Anschliessend werden die wichtigsten Informationen zu all diesen Personen in einer 20-seitigen alphabetischen Liste publiziert, wobei den Namen und Informationen auf jeder Doppelseite zeitgenössische Fotos der Verfolgten gegenübergestellt werden.

Die Autoren gehen von einer im Grunde einfachen Fragestellung aus: Welche Schweizerinnen und Schweizer waren in Konzentrationslagern inhaftiert und was ist mit ihnen geschehen? Bei genauerem Hinsehen ist die Frage jedoch keineswegs trivial: Was gilt als Konzentrationslager und wer gilt als Schweizerin oder Schweizer? Bei den Konzentrationslagern orientieren sich die Autoren an der im Rahmen des deutschen Bundesentschädigungsgesetzes erstellten offiziellen Liste; als Schweizerinnen und Schweizer verstehen sie Personen, die bei der Verhaftung das Schweizer Bürgerrecht besassen oder es zu einem früheren Zeitpunkt besessen hatten. Diese klare Definition hat zur Folge, dass etwa eine Schweizer Kommunistin, die in Lörrach mit Propagandamaterial verhaftet wurde und auf dem Polizeiposten zu Tode kam, nicht in der Liste erscheint. Auch der Schweizer Kaufmann, dessen Geschäft beim Novemberpogrom in Köln zerstört und der verprügelt wurde, erscheint nicht in der Liste. Auch jene über 300 KZ-Häftlinge, die in der Schweiz geboren worden waren, aber laut den Auskünften der Zivilstandsämter von 90 Gemeinden, die die Autoren angefragt haben, nie das Schweizer Bürgerrecht besessen hatten, fehlen in dieser Liste. Umgekehrt figurieren darauf einige wenige Schweizerinnen und Schweizer, die gewöhnliche Kriminelle, Nazis oder gar Kriegsverbrecher waren, irgendwann in die Mühlen des Unrechtsstaates gerieten und schliesslich in einem KZ inhaftiert wurden.

Diese Fokussierung mag für manche eine allzu enge Perspektive sein, da es sehr viele andere Schweizer Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung gab. Sie erweist sich aus meiner Sicht aber als eine Stärke des Buchs. Dies gilt bereits für den ersten Teil: Statt einer allgemeinen Darstellung der NS-Verfolgung wird ein präzises Bild der Entwicklung der Konzentrationslager nachgezeichnet und deren Geschichte konsequent mit der Perspektive und dem Wissen von Behörden und Öffentlichkeit in der Schweiz sowie den eigenen Forschungsergebnissen verwoben. Damit ist ein wissenschaftlich überzeugender und historisch eindrücklicher – oder vielleicht besser bedrückender – Text entstanden, der auf Emotionalisierung und Dramatisierung verzichtet und dazu noch ausgesprochen gut lesbar ist. Auch für jene, die mit dem Thema vertraut sind, gibt es hier Neues zu entdecken.

Berührend sind die recherchierten Einzelschicksale im zweiten Teil, die weit über die Basisabklärungen hinausgehen. Aufgrund umfangreicher Zusatzrecherchen, auch bei den Angehörigen der damals Verfolgten, sind eindrückliche Porträts entstanden, die das breite Spektrum von Verfolgung und KZ-Inhaftierung aufzeigen.

Interessant sind die statistischen Auswertungen im letzten Teil. So wurden die meisten Verhaftungen im Gebiet des heutigen Frankreich vorgenommen, vor allem in den Jahren 1943 und 1944. Von den 391 Schweizer KZ-Häftlingen waren 279 Männer und 112 Frauen. Zum Zeitpunkt ihrer Verhaftung waren sie zwischen 13 und 78 Jahre alt. 96 waren nachweislich jüdisch, wobei aufgrund des Deportationsschicksals («via Drancy nach Auschwitz») und der Familiennamen der Anteil jüdischer Häftlinge tatsächlich etwas höher liegen dürfte. Männer kamen am häufigsten nach Buchenwald, Frauen nach Auschwitz: Darin spiegeln sich die geschlechtsspezifisch unterschiedlichen «Verhaftungsgründe» der Verfolger: Frauen wurden primär als Jüdinnen verhaftet, Männer wegen Beziehungen zum Widerstand oder regimefeindlichem Verhalten. Entsprechend waren die Überlebenschancen der verhafteten Frauen deutlich geringer als jene der Männer.

Am Ende stellen die Autoren fest, dass die Schweizer Behörden Dutzende Leben hätten retten können, wenn sie sich mutiger und mit mehr Nachdruck für die Schweizer KZ-Häftlinge eingesetzt hätten. Diese (an sich wenig überraschende) Feststellung wird auf den zwölf vorangehenden Seiten differenziert begründet. Sorgfältig werden die Handlungsspielräume ausgelotet, die für die Schweiz je nach Zeitpunkt und Ort sehr unterschiedlich waren. Der Einfluss der einzelnen Diplomaten und Beamten war ganz beträchtlich; viel hing von deren individuellem Engagement, aber auch vom Beziehungsnetz der Verfolgten ab. Ein zentrales Problem bestand darin, dass die Schweiz sich nicht prinzipiell an der Gleichbehandlung aller Schweizer Bürger und dem völkerrechtlichen Mindestschutz der Auslandschweizer orientierte. Eine solche Doktrin hätte noch nicht bedeutet, sich – wie etwa der wenig erfolgreiche Gesandte Dinichert in den 1930er Jahren – immer auf einer aussenpolitischen und grundsätzlichen Ebene mit dem Deutschen Reich anzulegen. Sie hätte den einzelnen Beamten aber eine klare Richtschnur gegeben. Weil diese jedoch fehlte und die Devise galt, nur im Einzelfall zu intervenieren, mussten die Beamten und Diplomaten selbst abwägen, wer ein «guter Schweizer» bzw. eine «gute Schweizerin» war und für wen sich eine Intervention bei den deutschen Behörden lohnte. Dabei entsprachen die Kategorien, bei denen es sich aus Schweizer Sicht oftmals nicht lohnte, – nämlich Kommunisten, Juden, Homosexuelle, «Zigeuner», «Asoziale» etc. – gerade jenen Verfolgten, die die Nationalsozialisten als minderwertig betrachteten und mit aller Gewalt aus ihrer Volksgemeinschaft ausgrenzten.

Mit ihrem Buch haben die drei Autoren unser Wissen über die Schweizer Verfolgten des Nationalsozialismus massgeblich erweitert und einen soliden Grundstein für weitere Forschungen gelegt. Ihre umfangreiche Forschungsdokumentation, die weit über die 391 im Buch dokumentierten Schweizer KZ-Häftlinge hinausgeht, ist im Archiv für Zeitgeschichte der ETH Zürich öffentlich zugänglich.

Zitierweise:
Spuhler, Gregor: Rezension zu: Spörri, Balz; Staubli, René; Tuchschmid, Benno: Die Schweizer KZ-Häftlinge. Vergessene Opfer des Dritten Reichs, Zürich 2019. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 71 (1), 2021, S. 214-216. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00080>.

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